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Birgit Mallow Organisationsentwicklung und Prozessberatung
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(Gilbert Probst)

Soziokratie - zur Stärkung von Selbstorganisation und Autonomie

Seitdem Frederic Laloux sein Buch „Reinventing Organizations“ veröffentlicht hat, ist das Interesse an Holacracy® in Europa deutlich gestiegen. Die große Schwester der Holakratie, die Soziokratie, verdient die Aufmerksamkeit allerdings genauso.

Soziokratie basiert auf den gleichen Elementen und Prinzipien wie die Holakratie und wird in den Niederlanden bereits seit Jahrzehnten eingesetzt. Der Ingenieur und Unternehmer Gerard Endenburg hat die heutige Form der Soziokratie in den 70er Jahren entwickelt. Bis heute wird sie in seiner Firma Endenburg Elektrotechniek erfolgreich umgesetzt.

Der niederländische Gesetzgeber hat dem Erfolg dieser Organisationsform in vielen Firmen längst Rechnung getragen: Unternehmen, die offiziell Soziokratie einsetzen, brauchen per Gesetz keinen Betriebsrat.

 

Die Soziokratie als Organisationsform

  • … unterstützt die kontinuierliche evolutionäre Unternehmensentwicklung durch die Prinzipien einer „dynamic governance“
  • … bringt effiziente Meetings mit einem einfachen integrativen Entscheidungssystem
  • … führt zu einer partizipativen Einbindung aller Mitarbeiter auf schlanke Art und Weise und mit Gleichwertigkeit in der Entscheidung
  • … unterstützt selbstorganisierte Teams, flexible Organisationsstrukturen und klare Rollen mit vier Regeln und wirksamen Prinzipien
  • fördert Kreativität und Produktivität im Unternehmen.

 

Die Gründung des Soziokratie Zentrums in Deutschland wird aktuell unter anderem vom Soziokratie Zentrum Österreich tatkräftig und mit Erfahrung unterstützt. Und in Wien habe ich bei der Globalen Soziokratie Konferenz 2016 meinen Kollegen Erich Kolenaty wieder getroffen.

Erich Kolenaty ist als Berater, Moderator und Coach ein Spezialist für Prozessbegleitung, Teamberatung und Großgruppen. Mit der Soziokratie beschäftigt er sich schon seit einer ganzen Weile und hat damit in seinem eigenen Umfeld eine intensive und gute Erfahrung gemacht.

Im Gespräch mit mir berichtet Erich Kolenaty von seinen persönlichen Erfahrungen mit der Soziokratie.

 

Mallow Lieber Erich, schön, dass unser Gespräch heute zustande kommt. Ich bin schon sehr gespannt.

Kolenaty Und ich erst!

Mallow Wofür brennst Du, wie man heute so sagt – privat und beruflich?

Kolenaty Beruflich ist das leichter gesagt: Es begeistert mich Menschen dabei zu unterstützen ihre Besprechungen und Workshops so abzuhalten, dass mehr rauskommt, sie mehr Spaß und Freude haben und ihre Potenziale besser einbringen können. Und in meiner Moderationswerkstatt zeige ich KollegInnen wie das geht. Und privat hängt mein Herz im Moment am meisten an unserem urbanen Co-Housing-Wohnprojekt und kurioserweise gleichzeitig an meinem Gartenhäuschen am Stadtrand.

Mallow Erich, Du hast Dich in den letzten Jahren intensiv mit dem Wohnprojekt Wien beschäftigt. Was genau ist Dir daran wichtig?

Kolenaty Jetzt habe ich dir die Spur gelegt, gell? In so einem Projekt zu leben ist eine andere Lebensform. Man kann sich das vorstellen wie ein Dorf in der Stadt. Und es ist wahr: wenn 70 Leute und 30 Kinder gemeinsam ein großes Haus in der Stadt planen, bauen und dann auch noch als Gemeinschaft einziehen, dann macht sich das nicht von selbst. Es ist wie ein Gesamtkunstwerk, eine soziale Skulptur, nur dass es halt bis zu einem gewissen Grad auch unseren Alltag bereichert und bestimmt. Gemeinschaftlich, nachhaltig, generationenübergreifend, selbstverwaltet und integrativ zu wohnen, das hat man nicht im Haus im Grünen. Es ist ein unglaubliches persönliches Entwicklungsprogramm und es tut der Seele so gut. Und wenn ich Ruh haben will, mach ich meine Wohnungstür nicht auf, wenn es läutet.

Mallow Das klingt nach einer wunderbaren Fülle und viel Lebendigkeit! Im Wohnprojekt habt Ihr dann schließlich Soziokratie eingeführt. Was war der Grund dafür?

Kolenaty 'Schließlich' trifft es nicht ganz genau: Die Soziokratie stand eigentlich ganz am Anfang. Es ist wirklich bemerkenswert: Das Wohnprojekt Wien war nicht nur das erste Projekt in Österreich, das Dragon Dreaming eingesetzt hat, sondern auch das erste Wohnprojekt, das mit Soziokratie gearbeitet hat. Bei der Soziokratie stand dahinter die Hoffnung, dass man damit eine Vorgehensweise findet, mit der man sich nicht nur prima strukturieren kann und effektive Besprechungen machen, sondern auch die Beteiligungsenergie hoch halten kann. Jetzt einmal abgesehen von den gefühlten 10.000 Entscheidungen, die wir seither getroffen haben.

Mallow Da habt Ihr wirklich harte Arbeit geleistet. Dabei: Soziokratie klingt ja für viele, die davon das erste Mal hören, entweder nach Sozialismus und Basisdemokratie oder nach Stuhlkreis und Esoterik. Wie würdest Du erklären, was die Soziokratie eigentlich ist?

Kolenaty Na gut, in Sesselkreisen sitze ich in Workshops und Seminaren seit 40 Jahren. Das mögen manche vielleicht nicht, aber besonders abnormal kommt es mir nicht vor. Der Kreis ist ja das Symbol der Kommunikation auf Augenhöhe schlechthin. Und ja, die Soziokratie gehört zu den seltsamen Tieren, denen man kurioserweise abwechselnd Esoterik oder Bürokratie vorwirft.

Also, die Soziokratie versteht sich als ein partizipatives Konzept in dem, „Sozio-kratie“, die Gruppe der Souverän ist. Also gerade nicht alle gemeinsam. „Basisdemokratie“ ist für die Soziokratie ein Unwort, die Vorstellung, dass alle so lange sitzen, bis sie sich zum Konsens geeinigt haben, die Inkarnation menschlichen Leidens in der Kommunikation.  

Die Soziokratie ist eines von den Konzepten, die vordergründig supereinfach daherkommen, bei denen der Teufel aber im Detail und in der Konsequenz der Umsetzung steckt. Die Essenz des Kreisorganisationsmodells hat Gerard Endenburg in vier Basisregeln zusammengefasst:

1. Das Konsentprinzip

Das Konsentprinzip beschreibt die Art wie soziokratisch Entscheidungen getroffen werden. Jeder trägt zur Lösungsfindung bei und entscheidet gleichwertig mit. Konsent in der Entscheidung heißt: es gibt gegen einen Vorschlag keinen begründeten, schwerwiegenden Einwand.

2. Die Kreisstruktur

Die Soziokratie ist im Kern ein Organisationsmodell. Ein Kreis, bzw. eine Kreisversammlung ist der Ort, an dem die Mitglieder des Kreises die Grundsatzbeschlüsse für die gemeinsame Zielerreichung treffen.

3. Die doppelte Koppelung

Durch die doppelte Koppelung ist jeder Kreis über eine Leitende Person und eine Delegierte Person an den nächst höheren Kreis angebunden. Das heißt, dass zusätzlich zur Leitenden Person eine zweite Person aus dem unteren Kreis in den oberen Kreis entsandt wird.

 4. Die Offene Wahl

Alle Kreismitglieder entscheiden gemeinsam, wer für welche Rollen und Aufgaben am besten geeignet ist. Die Wahl wird nach offener Argumentation mittels Konsent-Entscheidung durchgeführt.

Das klingt nicht nach Raketentechnologie, oder? In der Praxis sind es die vielfältigen Feinheiten der zusätzlichen Werkzeuge, die Probleme machen bzw. dass die übliche Alltagspraxis der Besprechung und Entscheidung halt dann doch sehr anders ist.

Mallow Danke, Erich! Was Du beschreibst macht deutlich, dass es sich bei der Soziokratie tatsächlich um ein recht umfassendes Management- und Organisationskonzept handelt.

Welchen ganz konkreten Nutzen zieht Ihr nun im Wohnprojekt aus der Soziokratie?

Kolenaty Die Vorteile sind beachtlich: Unsere Struktur führt zu einer großen Klarheit, was von wem erledigt oder bearbeitet wird. Alles hängt zusammen, gleichzeitig sind die Freiheitsgrade in den definierten Bereichen sehr hoch. Alleine die Durchlässigkeit von Generalversammlung – Leitungskreis – den 6 Hauptarbeitsgruppen – Ausführungsgruppen bis zu den einzelnen Personen ist enorm. Dadurch entsteht eine unglaubliche Motivation und Bereitschaft sich einzubringen. Wir haben gefühlte 10.000 Entscheidungen getroffen. Das sind 10.000 Möglichkeiten sich den Schädel einzuschlagen, oder Frust abzuholen. Ich finde die Konsent-Entscheidung hat uns nicht nur eine hohe Entschlussqualität gebracht, sondern auch eine große Zufriedenheit damit, WIE wir entscheiden. Und wenn ab und an der Konsent NICHT gegeben wurde, hat sich das im Nachhinein immer als sinnvoll und nützlich herausgestellt. Nicht zuletzt die Offene Wahl: Jedesmal ein Segen von Wertschätzung und Anerkennung.

Mallow

In all der Zeit habt Ihr mit dem soziokratischen Entscheidungssystem, dem Konsent, Entscheidungen mit großer wirtschaftlicher Tragweite getroffen. Ein Wohnprojekt mit so vielen Beteiligten ist ja ein ganz beachtlicher gemeinsamer Invest! Eure Erfahrungen zeigen: Konsent ist ein gutes, praktikables Entscheidungsverfahren. Und: Konsent führt zu guten Entscheidungen.

Ziehen wir nun mal eine Parallele: Was aus Deinen Erfahrungen im Wohnprojekt ist übertragbar in moderne Wirtschaftsunternehmen? Ganz konkret?

Kolenaty Man muss es eher anders herum sehen: Die Soziokratie ist vor 40 Jahren in und für Unternehmen entwickelt worden. Insofern braucht man gar nichts übertragen, sondern kann die Soziokratie einfach so einsetzen wie sie in hunderten Beispielen, vor allem in Holland, erprobt ist. Die Anwendung in einem Wohnprojekt ist gar nicht friktionsfrei möglich, weil ein Wohnprojekt seiner Natur nach eine Sozietät ist und keine Top-down-Organisation. Ich glaube, die Soziokratie passt besonders gut in von den Eigentümern geführte mittelständische Unternehmen. Je größer und abstrakter die Organisation ist, desto schwieriger ist die Umsetzung. Aber das ist meine persönliche Meinung.

Mallow Wenn ein Unternehmen vielleicht nur erste kleine Schritte machen möchte, um Elemente der Soziokratie auszuprobieren: Was würdest Du für ein erstes Experimentierfeld empfehlen?

Kolenaty Wer einmal mit einem Kreis anfangen will, der beginnt am besten mit den Regeln 1 und 4. Da braucht es noch keine Verknüpfungen. Mit der Definition der Domain, der Unterscheidung von Grundsatzentscheidung und Ausführungsentscheidung, dem Ablauf der Kreisversammlung und der Konsententscheidung kommt man schon relativ weit. Dazu noch die Offene Wahl der Funktionen – perfekt. Da kann sich auch ein begrenzter Bereich schon ziemlich entfalten.

Mallow Lieber Erich, was Du uns hier berichtet hast, ist sehr spannend und anschaulich. Herzlichen Dank Dir dafür! Ich wünsche Dir alles Gute und vor allem eine glückliche weitere Zeit in Eurem tollen Haus!

 


Weiterführende Informationen zu Soziokratie und mehr ...


Und falls Sie in Ihrem Unternehmen ebenfalls darüber nachdenken, wie Sie mehr Partizipation, Selbstorganisation und Autonomie in die Organisation bringen, lassen Sie uns darüber reden. Ich kann Sie gut unterstützen.
Ihre Birgit Mallow

 

 

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