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Birgit Mallow Organisationsentwicklung und Prozessberatung
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Wissen ist die einzige Ressource, welche sich durch Gebrauch vermehrt.
(Gilbert Probst)

Für die Digitalisierung brauchen Unternehmen mehr als „agil“!

In letzter Zeit habe ich wieder mehrfach gelesen, dass Deutschlands Unternehmen zu wenige echte Innovationen auf den Markt bringen. „Wir können zwar effizient, aber nicht innovativ!“ sagt Thomas Sattelberger darüber. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Eine wesentliche Ursache scheint mir unser bisheriges Verständnis von Unternehmensführung: Über Jahrzehnte konnten Unternehmensleiter und Führungskräfte aller Ebenen mit ausgefeilten Instrumenten für Planung und Controlling sehr erfolgreich wirtschaften. Die Herausforderungen waren vorwiegend Effizienzsteigerung und Cost Cutting und hierfür sind vor allem Standardisierung und Nutzung von Synergien bewährte Instrumente. Als „Innovationen“ reichten in vielen Branchen kontinuierliche, aber eher kleine Optimierungen von Produkten und Prozessen, um Märkte zu verteidigen und Gewinne zu steigern. Der sich immer schneller beschleunigende technische Fortschritt bietet in diesem Feld Chancen für die Digitalisierung. Und so beobachten wir in vielen Branchen bereits seit etlichen Jahren die Initiativen für zunehmende Optimierung/Standardisierung und Automatisierung von Geschäfts- und Produktionsprozessen. Vernachlässigt wird bisher aber noch häufig der zweite Zweig der Digitalisierung, nämlich die schnelle Entwicklung neuer Geschäftsmodelle.

Die zweite Ursache liegt meines Erachtens in einer Reihe von Missverständnissen, die immer noch weit verbreitet sind. Um Produktideen schneller zur Marktreife zu bringen werden mittlerweile schon seit 15 bis 20 Jahren agile Arbeitsweisen wie Scrum, IT Kanban und eXtreme Programming eingesetzt. Gerade das Framework Scrum mit seinen einfachen Regeln und klaren Rollen ist mittlerweile sehr verbreitet und findet auch außerhalb der IT erfolgreich Einsatz.

Scrum  und Co. sind immer dann besonders wirksam, wenn wir sie in Situationen hoher Komplexität einsetzen: Wenn die Kunden noch unklare Vorstellungen vom Produkt haben oder sich ihre Anforderungen häufig ändern. Wenn die Produktentwicklung die geeignete Technologie und Implementierungsweise erst explorieren muss. Ein Missverständnis liegt dabei häufig in der Vorstellung davon, was „schneller entwickeln“ bedeutet. Tatsächlich arbeiten die einzelnen Mitarbeiter in agilen Teams keineswegs schneller als vorher. Vielmehr entsteht die Schnelligkeit entsteht durch verschiedene Maßnahmen, die Verschwendung vermeiden und konsequent kurze Durchlaufzeiten erzielen, bspw.:

  • die Detailplanung erfolgt erst just-in-time (für den nächsten Sprint), die mittel- und langfristige Planung (für Roadmap und Releases) bleibt grob. Änderungen und Konkretisierungen von Anforderungen führen somit nicht dazu, dass ein guter Teil der bereits geleisteten Arbeit obsolet wird (wie bspw. Teile der Fachkonzepte und Pflichtenhefte).
  • wir unterstützen eine wertorientierte Entwicklung durch konsequenten Verzicht auf (vermeintliche) Vollständigkeit. Wir vermeiden bspw. die „goldenen Wasserhähne“, die dem eigenen Perfektionsanspruch entspringen, aber die der Kunde gar nicht benötigt.
  • die enge selbstorganisierte Zusammenarbeit und barrierefreie Kommunikation in kleinen crossfunktionalen agilen Teams erlaubt es, in kurzen Iterationen Produktteile (Inkremente) fertigzustellen, die fertig integriert und getestet sind und potentiell bereits an den Kunden ausgeliefert werden können. Das ermöglicht kürzere Time-to-Market.

Wer agiles Arbeiten mit dem Anspruch einführt, Anforderungen immer noch möglichst vollständig zu erheben und wie gewohnt planorientiert und funktional separiert vorzugehen, wird die Vorteile der agilen Arbeitsweise nicht erzielen können.

 Es gilt also für Unternehmen in digitalen Zeiten zu unterscheiden, welche Aufgabenkategorie vorliegt, um die geeignete Arbeitsweise auswählen zu können: Aufgabenstellungen, die einfach oder kompliziert sind, können mit „klassischen Methoden“, mit linearer Planung und Effizienzsteigerung gelöst werden. Hier bieten sich hoch standardisierte Geschäftsprozesse und Automatisierung an; das ist oft typisch bspw. in Produktion, Vertrieb und Logistik. Andere Aufgabenstellungen sind komplex, sind nicht linear planbar oder berechenbar und erfordern eine kreative Problemlösung. Diese Aufgabenstellungen profitieren sehr gut von agilen Vorgehensweisen, wenn diese richtig verstanden und eingesetzt werden. Dies gilt vorwiegend für die Entwicklung von Produkten, Systemen, Konzepten und Services in einem komplexen Kontext. Es handelt sich hier um Designprozesse für die der Grundsatz „Effektivität vor Effizienz“ gilt.


Die Organisationslehre bezeichnet diese „Beidhändigkeit“ an Methoden auch als Organisationale Ambidextrie, d.h. wir benötigen Fähigkeiten, um mit Effizienzdruck und Komplexität umzugehen.


 

Kommen wir nun noch einmal zum oben bereits erwähnten „zweiten Zweig der Digitalisierung“ zurück. Hier gilt es ein weiteres Missverständnis auszuräumen, nämlich dass agile Arbeitsweisen alleine schon schnelle erfolgreiche Innovationen garantieren. Nach meiner Beobachtung ist das Entscheidende für viele Unternehmen nicht, dass es an guten Ideen fehlt (im Gegenteil) und auch nicht, dass die Produktentwicklung nicht schnell möglich wäre. Gute Ideen sind mittlerweile bereits oft das Ergebnis einer Phase, die das Framework Design Thinking und Ansätze wie Jam Sessions wirksam nutzt: In interdisziplinären kleinen Teams werden unter der Leitung eines erfahrenen Design Thinking Coaches systematisch Kundenbedarfe analysiert, viele wilde Ideen dazu entwickelt und die besten Ideen in Prototypen veranschaulicht. Wird Design Thinking richtig und mit guten Formaten eingesetzt, stehen die potentiellen Kunden tatsächlich im Mittelpunkt, werden insbesondere auch gleich wieder einbezogen, um Feedback für die Prototypen zu geben. Auf dieser Basis werden Phasen des Design Thinking erneut durchlaufen um die Ideen weiter zu konkretisieren. Aber wie geht es nun mit der schließlich gefundenen guten Idee weiter?


Das Entscheidende ist, dass es sehr vielen Unternehmen in dieser Phase nicht gelingt, zu einer guten Idee

  • entweder schnell ein tragfähiges innovatives neues Geschäftsmodell zu finden
  • oder schnell eine Richtungsänderung bei der Geschäftsmodellsuche einzuleiten.

 

Hier braucht es Ansätze und Vorgehensweisen wie bspw. Lean Startup, das wie Design Thinking den agilen Arbeitsweisen zwar verwandt, aber noch vorgelagert ist: Basierend auf einer guten Produktidee wird ein sogenanntes MVP formuliert, das Minimum Viable Product, also ein Produkt, das mit einem minimalen Funktionsumfang gerade noch einen sinnvollen Wert für einen Kunden oder eine Kundengruppe liefert. Das MVP selbst ist zunächst auch noch eine Hypothese, die wir als Experiment betrachten und verproben. Mit Scrum oder IT-Kanban kann das MVP auch sehr schnell umgesetzt werden. Der entscheidende Schritt ist nun aber, das MVP realen Kunden vorzustellen und ehrliches Feedback dazu einzuholen: Weckt das Produkt Interesse und deckt einen tatsächlichen Bedarf, wird es wirklich bestellt und gekauft? Um möglichst schlank und kostengünstig vorzugehen, werden bspw. für Messe-Präsentationen MVPs entwickelt, deren selbst minimaler Funktionsumfang noch gar nicht vollständig entwickelt ist, sondern nur so aussieht als ob. Kritische Features werden dann z.T. erst bei Vorliegen von Bestellungen final fertig gestellt und können neue Erkenntnisse über die Kundenbedarfe immer noch in akzeptabler Zeit passgenau berücksichtigen. In der Community findet sich gerade auch ein neuer Begriff: „RAT“, d.h. Riskiest Assumption Test. Ein gutes erstes MVP ist im Grunde ein RAT. Außerdem ist entscheidend, wie man das Gespräch führt und seine Fragen formuliert, um wirklich ehrliches und nützliches Feedback der Kunden zu erhalten.  

 

Mit diesen Ansätzen werden teure Fehlentwicklungen vermieden. Ein (auch wiederholter) Richtungswechsel (Pivot) ist im Lean Startup explizit vorgesehen. So einfach dieses Vorgehen aber klingt: Es braucht viel Mut und unternehmerische Führungsstärke, mit einem echten MVP zu arbeiten und immer wieder die Entscheidung zu treffen, ob wir in der eingeschlagenen Richtung weiter experimentieren oder doch noch einen grundlegenden Pivot vollziehen.

 

Für Unternehmen, die in der digitalen Zeit überleben und ihre Zukunft aktiv gestalten wollen, ist noch das 3-Horizonte-Modell sehr nützlich. Die 3 Horizonte bilden einen geeigneten Denkrahmen für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle:

  • In Horizont 1 liegen die tragfähigen Geschäftsmodelle und aktuell erfolgreichen Produkte, die das Auskommen des Unternehmens sichern und immer weiter optimiert werden. Mit Effizienzsteigerung und Marketing werden Marktanteile ausgebaut oder verteidigt.
  • In Horizont 2 liegen die neuen Produkte, die noch im Aufbau sind und für die grundlegende Funktionalitäten erst noch implementiert werden. Hier geht es darum, den Markt oder neue Marktsegmente für das Produkt erst noch zu erschließen und das Geschäftsmodell zu evaluieren.
  • Horizont 3 liegt noch am weitesten in der Zukunft. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, aus ersten Ideen überhaupt tragfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln und damit die Grundlage für künftiges Wachstum und Geschäft zu generieren.


 

Idealerweise hat ein Unternehmen Initiativen in allen drei Horizonten gleichzeitig und rechnet realistisch damit, dass ein Großteil der Initiativen den 1. Horizont nicht erreichen wird. Zugleich bildet das 3-Horizonte-Modell aber eine gute Basis um die verfügbaren Ressourcen ausgewogen zu verteilen und keinen Horizont zu vernachlässigen. So lässt sich auch leichter ein adäquates Organisationsdesign entwickeln, das die 3 Horizonte gut integriert.

Agile Arbeitsweisen sind in der Phase des Wachstums, also vorwiegend in Horizont 2 besonders wirksam und unterstützen eine schnelle Time-To-Market für die kritischen Funktionalitäten.

 


Die wirksame Nutzung all dieser Methoden, Frameworks und Arbeitsweisen fordert in den Unternehmen mutige Führungspersönlichkeiten, die gute Rahmenbedingungen für Corporate Entrepreneurship schaffen oder selbst als Intrapreneure wirken wollen.


Für Unternehmensleiter und Führungskräfte wird die Arbeit in den Unternehmen damit sehr viel anspruchsvoller. Diese Art von Führung geht auch über das hinaus, was wir derzeit Agile Leadership nennen: Wir benötigen Digital Leadership. Aber das ist gelegentlich einen eigenen Gedanken wert.

 


Wollen Sie die Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit Ihres Unternehmens nachhaltig verbessern? Dann sprechen Sie uns an. Wir können Sie gut unterstützen.
Ihre Birgit Mallow

 

 

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Bild: Cristine Lietz / pixelio.de